Mi 01. Juni 2022
Landwirtschaftliche Anbauflächen vertikal zu denken, ist vor allem in der Stadt, wo Boden knapp und kostbar ist, eine kluge Idee. Der Wiener Ingenieur Othmar Ruthner wusste dies schon in den 1960er-Jahren. Seine Turmgewächshäuser erleben heute unter dem Schlagwort „Vertical Farming“ eine beachtenswerte Renaissance.
Wien-Favoriten, Kurpark Oberlaa: Auf dem Gelände der ehemaligen WIG 74 (Wiener Internationale Gartenschau 1974) steht inmitten von Büschen und Bäumen ein hohes, seltsam anmutendes Eisenskelett. Es sind letzte Erinnerungsstücke an ein bemerkenswertes Experiment. Grüne Wegweiser mit der Aufschrift „Turmglashaus“ führen hierher; eine Tafel, montiert an der Hinterseite des Nebengebäudes, verrät die ursprüngliche Bestimmung des Ganzen: „Kontinuierliche Produktionsanlage für Pflanzen und Pflanzeninhaltsstoffe – System Ruthner.“ Was bedeutet: Hier stand einmal ein Turmgewächshaus zum Zwecke der Pflanzenzucht.
Begonnen hatte es zehn Jahre zuvor, auf der WIG 64. Es war die Zeit, als Wien sich erneut als Weltstadt zu positionieren begann und dazu im Donaupark eine ausgedehnte Gartenschau, die europaweit größte, ins Leben rief. Stolz präsentierte man dabei nicht nur tausende Blumen, auch neue technische Attraktionen sorgten für Furore. Darunter ein „Turmglashaus“, in dem vorgeführt wurde, wie die voll automatisierte Pflanzenzucht der Zukunft aussehen könnte.

WIG 64 mit Ruthner-Turm: WIG 64 mit Ruthner-Turm
WIG 64 mit Ruthner-Turm
Das Glashaus war mit seinen 41 Meter Höhe ein beachtlicher Eye-Catcher. In seinem Inneren herrschte reger Betrieb: Insgesamt 35.000 Pflanzentöpfe, in eigenen Hängevorrichtungen montiert, bewegten sich im Paternoster-Prinzip stetig auf und ab, wurden dabei automatisch besprüht, gedüngt und gewässert. Oberstes Ziel war es, möglichst gleiche klimatische Bedingungen für alle Pflanzen zu bieten. Gezogen wurden vor allem Blumen wie Primeln und Veilchen und frisches Gemüse wie Tomaten, Paprika und Salat.
Die Öffentlichkeit war begeistert. In- und ausländische Medien berichteten darüber, sprachen von einer „Weltsensation“ und einer „Revolution im Pflanzenbau“. Sogar die „New York Times“ lobte die ingenieurwissenschaftliche Meisterleistung, die – so die große Hoffnung – eine von Klima und Standort weitgehend unabhängige Landwirtschaft vorstellbar machte und mit dazu beitragen könnte, die Ernährungsprobleme der Zukunft zu lösen.
Erfinder dieser Weltneuheit war ein heute weitgehend vergessener Österreicher, der Wiener Ingenieur Othmar Ruthner (1912–1992). Der innovative Unternehmer hatte 1964 die „Ruthner Industrieanlagen für Pflanzenbau GmbH“ gegründet mit dem Ziel, seine Idee des Turmgewächshauses in die Realität umzusetzen.
Zwar wurde die Anlage im Donaupark nach Beendigung der Gartenschau abgebrochen, doch in den kommenden Jahren konnte Ruthner weitere Türme in verschiedenen, meist kleineren Varianten errichten: Neben Österreich (Wien, Langenlois, Imst, Wiener Neustadt) auch in Deutschland, der Schweiz, Norwegen, Polen, Russland, Kanada, Libyen und Saudi-Arabien. Insgesamt etwa 25 Stück. Fasziniert berichtete der „Spiegel“ von der nunmehr fast greifbaren Utopie einer Rekordernte im Fließbandtempo, und das mit minimalem Arbeitsaufwand: „Ein einziger Arbeitsmann genügt, das grüne Uhrwerk in Gang zu halten. Nach dem Ruthner-Motto ‚Pflanze kommt zum Gärtner’ läßt er die Gondeln zu sich heranschweben, stoppt sie für die Zeit der nötigen Handgriffe und setzt dann den Paternoster wieder in Bewegung. An einem Kontrollpult bestimmt er mittels Knopfdrucks die richtige Zusammensetzung der Nährlösung und die erwünschte CO2-Begasung; Meßinstrumente geben ihm Aufschluß über Wurzelfeuchtigkeit, Temperatur und Lüftungsstrom.“
Das Technische Museum Wien besitzt in seinem Archiv einige Prospekte von Ruthners Pflanzenproduktions-Firma. Bilder und Texte verdeutlichen die radikale Modernität seiner Idee der „kontinuierlichen Gewächshäuser“. Und seine anhaltend große Vision, die da lautete: „Bald werden wir zwischen Wäldern aus durchsichtigen Pfeilern wandeln.“

Prospekte ... : Prospekte ...
Prospekte ...
... der Fa. Ruthner, um 1964: ... der Fa. Ruthner, um 1964
... der Fa. Ruthner, um 1964
Die Zuversicht des Erfinders sollte sich jedoch als verfrüht erweisen. Der Betrieb der Türme blieb durch hohe Baukosten, vor allem aber durch zu hohe Energiekosten für den Antrieb des Aufzugs und die notwendige Luftumwälzung letztlich unrentabel. Ende der 1980er-Jahre beendete die Firma daher ihre Tätigkeit in diesem Bereich.
Doch die Idee des „Vertical Farming“ lebte weiter und erfuhr schon bald eine Renaissance. Insbesondere in dicht verbauten Großstädten, wo es wenig Platz für flächenintensive Landwirtschaft gibt, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln jedoch anhaltend hoch ist. Ganzjährige Kultivierung, geringer Flächenverbrauch und kurze Lieferwege sind hier starke Argumente für die vertikale Landwirtschaft.
Dickson Despommier, amerikanischer Vertical-Farming-Guru der ersten Stunde, spricht voller Überzeugung von der „nächsten landwirtschaftlichen Revolution“. Und auch in Österreich wird die Diskussion über „urban food“ mittlerweile intensiv geführt. Vordenker ist hier der Wiener Architekt Daniel Podmirseg. Er griff Ruthners Idee auf, gründete das „Vertical Farm Institute“ und gehört heute zu den gefragtesten Experten auf diesem Gebiet.

Daniel Podmirseg bei der Bepflanzung der Vertikalen Farm im Technischen Museum Wien: Daniel Podmirseg bei der Bepflanzung der Vertikalen Farm im Technischen Museum Wien
Daniel Podmirseg bei der Bepflanzung der Vertikalen Farm im Technischen Museum Wien
Für die Ausstellung FOODPRINTS entwarf er eine experimentelle „Vertikale Farm-Skulptur“, die jene drei Faktoren verdeutlicht, die Pflanzen zum Wachstum benötigen:

Licht (erzeugt mittels LED und vom Farbspektrum v. a. im roten und blauen Bereich), Substrat sowie Wasser mit Mikronährstoffen (Natrium, Kalium, Phosphate). Kleine Pumpen sorgen für das Zirkulieren des Wassers und seine Anreicherung mit Sauerstoff. In sechs schräg übereinander montierten Trögen werden so Vogerlsalat, Weißkohl, Asiasalate, aber auch Salbei und Basilikum gezogen. Die futuristisch anmutende Installation wird mit WLAN gesteuert, ist also mittels Handy-App jederzeit kontrollierbar. Zu erleben ist letztlich ein permanenter Transformationsprozess, bei dem die Pflanzen bis zu 30 cm hoch werden können, und all das unter Einsatz modernster Technik. „Ich will das Ding ins 21. Jahrhundert bringen“, resümiert Podmirseg in Anspielung auf Ruthners vielversprechender Grundidee. Denn die Vorteile des vertikalen Anbaus liegen für ihn klar auf der Hand: Reduktion der benötigten Landfläche, Reduktion des Wasserverbrauchs durch Kreislaufsystem, Reduktion des Düngerverbrauchs.

Vertikale Farm-Skulptur ...: Vertikale Farm-Skulptur ...
Vertikale Farm-Skulptur ...
...  in der Ausstellung FOODPRINTS: ...  in der Ausstellung FOODPRINTS
... in der Ausstellung FOODPRINTS
Es gilt, Vergangenheit und Gegenwart klug miteinander zu kombinieren. Hilfreich dabei ist nicht zuletzt die Aufarbeitung und Digitalisierung des Ruthner-Privatarchivs, die Podmirseg gemeinsam mit Ruthners Sohn Oswald vorantreibt. Mit dem Ziel, in absehbarer Zeit ein Online-Museum ins Leben zu rufen, das für wissenschaftliche Arbeiten und Recherchen zur Geschichte des „Vertical Farming“ zur Verfügung steht. Und dabei natürlich auch die Pionierleistung von Othmar Ruthner sichtbar macht.
Die Arbeit an der Zukunft der Stadt verlange Tatendrang und Optimismus, so Podmirseg, denn: „Es ist zu spät, um Pessimist zu sein“.

Daniel Podmirseg: Daniel Podmirseg
Daniel Podmirseg
Literaturhinweise
Dickson Despommier: The Vertical Farm. Feeding the World in the 21st Century. New York 2010.
Daniel Podmirseg: up! Contribution of Vertical Farms to Increase the Overall Energy Efficiency of Cities. Graz 2015.

Peter Payer (Technisches Museum Wien) ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Sammlungsbereich „Alltag und Gesellschaft“.