Mo 11. April 2022
Absichtsvolles Nicht-Essen ist uns heute als psychische Krankheit oder als politische Manifestation geläufig. Dass Hungern einmal auch Teil der Unterhaltungskultur war, scheint rückblickend mehr als kurios. Wobei die Grenze zur Schwindelei sich bisweilen fließend darstellte. Eine historische Umschau mit Ausläufern fast bis zur Gegenwart.
Es war eine ungewöhnliche Wette, die Dr. Henry Tanner im Sommer 1880 einging: 40 Tage lang wollte er ohne zu essen auskommen, nur Wasser zu trinken sollte ihm erlaubt sein. Der amerikanische Arzt aus Ohio war der festen Überzeugung, dass eine befristete Nahrungsenthaltung die richtige Behandlung für zahlreiche Leiden sei. Im Selbstversuch ging es ihm nun darum, „die Kraft des menschlichen Willens zu demonstrieren und den Materialisten zu beweisen, daß es außer Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlensäure noch etwas anderes im menschlichen Hirn gibt“.
Im Juni begann Tanner in der Clarendon Hall in New York City sein Experiment. Tag und Nacht bewacht, verbrachte er seine Zeit zumeist mit Schlafen, Zeitunglesen oder im Gespräch mit seinen Besucher_innen, die zu Tausenden kamen, um – gegen Bezahlung einer Eintrittsgebühr – den freiwillig darbenden „Hungerdoktor“ zu sehen. Zwar musste Tanner mehrmals kritische Phasen überwinden, doch nach 40 Tagen hatte er glücklich die Würde eines „Champion-Hungerers“ errungen. Später wiederholte er noch öfter derartige Vorführungen, sodass er binnen kurzer Zeit eine enorme Popularität erlangte.

Dr. Henry Tanner bei seinem Selbstversuch, 1880
Dr. Henry Tanner bei seinem Selbstversuch, 1880
Nicht zuletzt aufgrund des in finanzieller Hinsicht beachtlichen Erfolgs verbreitete sich das Schauhungern bald auch in Europa. Hier versuchte sich erstmals der italienische Abenteurer Giovanni Succi im Jahre 1886 an einer „Hungertour“. Er begann in Mailand eine 30-tägige Fastenperiode, und das Interesse war auch hier enorm. Unzählige in- und ausländische Besucher_innen reisten an, um sich persönlich von seinem Wohlbefinden zu überzeugen. Wie bei Tanner warf auch diese Schaustellung einen beträchtlichen Gewinn ab. Succi unternahm in der Folge Tourneen in fast alle Großstädte Europas und wurde damit zum berühmtesten Hungerkünstler seiner Zeit. Allerdings hielten ihn auch manche für verrückt oder schlicht – für einen Betrüger.
Neben ihm avancierten bald auch andere, heute meist vergessene Männer und Frauen zu vielbestaunten Stars der neuen Unterhaltungsform: Oft traten sie unter italienischen Künstlernamen auf, wie der Norweger Francisco Cetti, der Deutsche Riccardo Sacco oder der Franzose Stefano Merlatti. Von den Frauen erlangten die Österreicherin Auguste Victoria Schenk, die Französin Claire de Serval oder die Amerikanerinnen Kate Smulsey und Marie Davenport überregionale Berühmtheit.

Schau-Platz: Wien

Auch die Wiener Bevölkerung hatte im Frühjahr 1896 Gelegenheit, Giovanni Succi zu bestaunen, der im März im noblen Hotel Royal in der Singerstraße seine mittlerweile bekannte 30-tägige Hungertour begann. Ein hochkarätiges Überwachungskomitee war zusammengestellt worden, dem unter anderem Primarius Dr. Ritter von Limbeck angehörte. Populäre Massenblätter berichteten jeden Tag ausführlich über den Verlauf der „Hungertour“.
Gleich in den ersten Tagen begab sich Succi zu einem Sportfotografen, der ihn in verschiedenen Posen aufnahm. Die signierten Fotografien verteilte er sodann unter den Gästen oder verschickte sie auf Anfrage per Post. Im Empfangszimmer konnte man Werbefotos bewundern, auf denen er in Ritterrüstung und Helm zu sehen war – eine Inszenierung, die seine künstliche Abgeschlossenheit von der Umwelt wie auch seine eiserne Willenskraft symbolisierte.

Giovanni Succi bei einem Auftritt 1886
Giovanni Succi bei einem Auftritt 1886
Die Veranstaltung avancierte zum gesellschaftlichen Ereignis. Allein an den beiden Osterfeiertagen empfing Succi mehr als 500 Personen, darunter besonders viele Damen, die ihn mit Blumenspenden bedachten. Der Hungerkünstler zeigte sich entzückt über die „Liebenswürdigkeit der Wienerinnen“.
Doch nicht alle brachten ihm eine derartig wohlwollende Zustimmung entgegen. Schon in den ersten Tagen hatte er zahlreiche merkwürdige Geschenke erhalten, darunter zwei paar Würstel mit den beigefügten Zeilen: „Wir Wiener lieben keine mageren Leut‘, – Haben nur an Dicken große Freud‘. – Wir sind so gut, erbarmst uns sehr, – Zwei Würstel senden wir daher.“ Und auch in den Zeitungen fehlte es nicht an spöttischen Bemerkungen. Die immer wieder vorgebrachte Unterstellung des Betrugs sollte sich jedoch letztlich als – zumindest teilweise – berechtigt erweisen.
Einen Tag nach Beendigung der Veranstaltung behauptete ein Arzt, er habe Succi in seinem Zimmer überrascht, wie dieser gerade ein Beefsteak aß und von einem Kellner ein Glas Sekt eingeschenkt bekam. Nach Prüfung der Sachlage musste das Ärzteteam schließlich zugeben, dass die Hungertour genau genommen nicht 30, sondern nur 25 Tage gedauert hatte. Die ganze Angelegenheit war überaus peinlich. Primarius Limbeck versuchte den guten Ruf der Wissenschaft zu retten: „Ob der wissenschaftliche Werth einer solchen Fastenperiode, wenn dieselbe nun 25 oder 30 Tage dauert, durch diese kleine Differenz leidet, scheint mir kleinlich, zu discutiren.“

Standardisierter Wettkampf

Angesichts derartiger, immer wieder vorgebrachter Zweifel änderte sich von nun die Präsentation: Der Hungerkünstler wurde in einem transparenten Glaskasten eingesperrt, wo er – streng bewacht – bis zum Ablauf der vereinbarten Zeit verblieb. Der gesamte Ablauf geriet zum standardisierten Ritual. Der Verzehr der letzten Mahlzeit, deren einzelne Gänge genauestens kundgetan wurden, die darauffolgende „Einmauerung“ in das freiwillige Gefängnis sowie die spätere „Befreiung“ daraus waren die spektakulärsten Momente der „Hungertour“, die besonders theatralisch inszeniert wurden.
Die lückenlose Überwachung war von entscheidender Bedeutung für die Glaubwürdigkeit und den (auch kommerziellen) Erfolg des Unternehmens. So war der Hungerkünstler Sacco sogar bereit, 10.000 Kronen an jene zu bezahlen, die ihm während seiner Gefangenschaft die Aufnahme von Speisen nachweisen. Und Auguste Schenk engagierte nicht zufällig die „Wach- und Schließgesellschaft“, deren Name für entsprechende Sorgfalt bei der Überwachung bürgte.

Auguste Victoria Schenk in ihrer „Hungerzelle“, 1905
Auguste Victoria Schenk in ihrer „Hungerzelle“, 1905
Was empfanden nun die Zuschauer_innen beim Anblick der Hungernden? War es Bewunderung für die Willensstärke dieser Menschen? Oder fassungsloses Entsetzen, wie weit man in seiner Geltungssucht und vielleicht auch Geldgier gehen konnte?
Das Wahrnehmungsdispositiv war jedenfalls nicht neu. So war einigen Journalist_innen aufgefallen, dass sich das Publikum wie im Zoo verhalte, „als wäre in dieser Vitrine ein merkwürdiges Fabelwesen zur Schau gestellt. Mit ernsthaften Gesichtern studiren die Zuschauer das hagere, etwas gleichgiltig und verdrossen in die andere, die satte Welt blickende Gesicht des Hungerkünstlers. Man studirt die an einem der Fenster angeschlagenen Bulletins und erkundigt sich theilnahmsvoll nach dem Befinden. Alles mit gedämpfter Stimme, als gelte es, den Schlaf eines Schwerkranken nicht zu stören.“
Dem zoologischen Blick auf den Hungerkünstler entsprachen die Versuche mancher Zuschauer_innen, diesen durch Klopfen an die Scheibe zu mehr Bewegung zu animieren, ganz ähnlich wie man ein wildes Tier reizt, um es im Käfig in Aktion zu erleben.

Kommerzialisierung und Krise

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verlor das Schauhungern allmählich an Attraktion; der Reiz des Neuen war, so schien es, erschöpft. Auch Franz Kafka, der dem Hungerkünstler bekanntermaßen eine eigene Erzählung widmete, registrierte, dass sich „wie in einem geheimen Einverständnis überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet“ habe. Erst in der von Inflation und Arbeitslosigkeit geprägten Nachkriegsgesellschaft kam es zu einer spektakulären Neubelebung. Im Unterschied zu den Darbietungen der Jahrhundertwende, bei denen die Suche nach neuen medizinischen Erkenntnissen noch eine gewisse Rolle gespielt hatte, entwickelte sich nun allerdings eine rein ökonomisch ausgerichtete Unterhaltungsform. Ein Jahr ist dabei besonders hervorzuheben: 1926.
Im März gelang es dem Deutschen Jolly in Berlin einen neuen Hungerweltrekord von 44 Tagen aufzustellen. Eine Sensation, begleitet von enormem Publikumsinteresse. Insgesamt 350.000 (!) Menschen besuchten die Veranstaltung, der Reingewinn Jollys soll rund 130.000 Mark betragen haben.
Dies löste in ganz Europa einen wahren Hungerkünstler-Boom aus. Schon während des Auftritts von Jolly begannen in Berlin Ventego, Fastello, Harry, Wahlmann und die Kollegin Daisy mit ebensolchen Darbietungen. Harry Nelson trat in Leipzig auf, Harry Leut in Dresden, Rolf Petersen in Breslau, Jacky Jack und Don Polo in Halle, Tantalus in Chemnitz, Horst in Hamburg. In Paris hungerte Wolly, in Stockholm Sidi Hassan, in Budapest Alberti und eine Tirolerin namens Grete. Und auch in Wien kam es zu einem Wettkampf um die Gunst des Publikums, bei dem die Hungerkünstler Nicky, Fred Ellern und Max Michelly sich gegenseitig zu überbieten suchten. Tatsächlich gelang es auch einigen von ihnen, Jollys Rekord zu übertreffen. So schafften die gemeinsam in ihrer Zelle eingeschlossenen Harry und Fastello 45 Tage, Max Michelly konnte schließlich sogar 54 Hungertage überstehen.

Hungerkünstler Ventego bei seinem Auftritt in Berlin, 1926
Hungerkünstler Ventego bei seinem Auftritt in Berlin, 1926
Angesichts der demotivierenden Flut an neuen Rekorden hielten allerdings immer weniger Akteur_innen ihren Auftritt bis zum Ende durch. Und es tauchten immer häufiger Fälle von Betrug auf. Als prominentester Schwindler entpuppte sich kein geringerer als Jolly selbst, der heimlich Schokolade verzehrt hatte. Derart in Misskredit gebracht, verlor das Schauhungern rasch an Anziehungskraft. Der Ruf nach einer Beendigung solch „unerfreulicher Schaustücke“ wurde immer lauter.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte die Kunst des Hungerns nur mehr für kurze Zeit eine gewisse Popularität. Hungerkünstler wie Heros oder Maxon wurden in den 1950er-Jahren zu letzten, auch international bekannten Vertretern ihres Metiers.

Ein filmisches Dokument über einen der letzten Hungerkünstler: Maxon in Stuttgart, 1955 © SWR
Renaissance

Erst mit der Etablierung der „Erlebnisgesellschaft“ ab den 1990er-Jahren und der Möglichkeit der globalen massenmedialen Verwertbarkeit von Kultur- und Kunstevents durch das Internet kam es zu einer Wiederbelebung der öffentlich dargebotenen Hungerkunst.
Den bei weitem spektakulärsten Versuch dazu unternahm der New Yorker Illusionist und Performancekünstler David Blaine. In seiner 2003 durchgeführten Aktion „Above the Below“ verbrachte er 44 Tage ohne Nahrung, nur versorgt mit Wasser, in einem Glaskasten, der in neun Meter Höhe nahe der Londoner Tower-Bridge aufgehängt war. Mittels einer Webcam konnte man ihn Tag und Nacht im Internet beobachten.

David Blaines Aktion „Above the Below“, London 2003
David Blaines Aktion „Above the Below“, London 2003
Sowohl das virtuelle Interesse als auch jenes vor Ort war enorm. Der Glaskasten wurde zur viel besuchten Pilgerstätte. Um 30 Kilo abgemagert, verließ Blaine am 19. Oktober seine Zelle, erschöpft und kaum noch in der Lage zu gehen. Die Performance blieb jedoch nicht unumstritten. Bewunderung und Sensationslust wechselten sich ab mit Kritik und Abscheu über eine Kunst, die sich von Beginn an im Grenzbereich zwischen Schein und Wirklichkeit, zwischen Betrug und Ausnahmeleistung bewegte.

Literaturhinweise:
Peter Payer: Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion. Wien 2002.
Franz Kafka: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin 2015 (EA 1924).


Peter Payer (Technisches Museum Wien) ist Historiker und Stadtforscher sowie Kurator im Sammlungsbereich „Alltag und Gesellschaft“.