Von der Natur lernen: Seit Aristoteles den Gecko als Klebekünstler bewunderte, fragen sich die Menschen, wie das funktioniert. Andere wollen den Gecko-Trick ins Labor verpflanzen und für Alltagsanwendungen tauglich machen: Bilder an die Wand kleben? Roboterhände damit ausstatten? Neue Medizinprodukte mit Gecko-Effekt? Oder gar: Klettern wie ein Gecko? Einiges davon ist inzwischen Realität geworden – und sogar ein Schiffsarzt aus der k.-u.-k.-Monarchie spielt dabei eine wichtige Rolle.
Text: Eduard Arzt
Kleben ohne Klebstoff – wie Geckos die Robotik und die Medizin revolutionieren
Mi 12. April 2023
Lange Zeit rätselhaft
Der Gecko kann als größtes Tier mit seinen Zehen an glatten Wänden oder sogar an der Decke haften und laufen. Verschiedenste Erklärungen hat es für diese Erscheinung im Lauf der Zeit gegeben. Lange wurden dem Tier Saugkräfte unterstellt, doch damit hat der Schiffsarzt Dr. Franz Weitlaner aufgeräumt: Als er sich im Jahr 1902 an Bord eines österreichischen Kriegsschiffs in Singapur langweilte, stellte er mit den überall lauernden Geckos bahnbrechende Experimente an. Er wies nach, dass ihre Haftung in Gefäßen, die er mittels Schiffspumpen evakuierte, um nichts schlechter war – der Luftdruck, der die Saugkraft eines Badezimmerhakens ausmacht, konnte also nicht für die Gecko-Haftung verantwortlich sein. Heute weiß man, dass die schwirrenden Elektronen in fast allen Materialien für Anziehung sorgen – wir sprechen von Van-der-Waals-Kräften, die überall präsent sind. Dass wir nicht an der Computertaste oder am Fußboden kleben bleiben, liegt allein an der Rauheit der beiden Oberflächen; durch sie ist der Kontakt immer wieder unterbrochen und die Elektronen kommen sich nicht nahe genug, um ihre Haftwirkung zu entfalten. Ein Glück, dass nichts in unserer natürlichen Welt ideal glatt ist!
© https://www.karl-may-wiki.de/index.php/Franz_Weitlaner, Publikationsfoto aus Verh. Zoolog. Botan. Ges. Wien 1902
Doch warum haftet dann der Gecko, egal wie rau die Gegenseite ist? Das Rätsel wurde erst gelöst, als man seine Haftzehen unter dem Elektronenmikroskop beobachten konnte: Feine Härchen, die am Ende nur ein Tausendstel der Dicke eines menschlichen Haares ausmachen, sorgen für den idealen Kontakt mit praktisch allen Oberflächen – zwar nicht zwischen den Härchen, aber dafür ist die Haftung dort enorm hoch. Nur nasse Oberflächen oder das Antihaftmaterial Teflon (von der Beschichtung der Bratpfanne bekannt) mag der Gecko nicht. Da er dort schnell abrutscht, meidet er diese Oberflächen. (Im Lauf der Evolution hatte er es aber auch die meiste Zeit nicht mit Teflon-Oberflächen zu tun.)
© INM und MPI Max-Planck-Institut Stuttgart, S. Gorb
Bionische Forschung
Wie kann man nun so ein natürliches Prinzip in unser Alltagsleben übertragen? Die Bioinspiration, auch Bionik oder Biomimetik genannt, ist inzwischen ein wichtiges Teilgebiet der Materialforschung geworden. Pflanzen und Tiere haben im Verlauf der Evolution zahllose Effekte „entdeckt“, die sie für ihren Überlebensvorteil nutzen. Hierher gehören zum Beispiel die fantastische innere Struktur von Muschelschalen, die durch ihre unerreichte Härte das Muscheltier vor dem Gefressenwerden schützt. Besondere optische Effekte in Pflanzen sorgen dafür, dass sich Bienen und Insekten von ihnen angezogen fühlen. Bei ihrer Berührung mit den Staubblättern nehmen sie Pollen mit, die an ihnen anhaften (schon wieder ein Haftmechanismus, aber ein anderer); so sorgt die Pflanze für ihre Weiterverbreitung. (Solche bioinspirierten optischen Effekte werden derzeit für die Herstellung neuer Sicherheitsmerkmale auf Geldscheinen erforscht.) Die Gecko-Haftung ist ein weiteres Paradebeispiel für die bionische Forschung: Ohne das Vorbild Natur wäre man vielleicht nie auf die Idee gekommen, zur Verstärkung der Haftung Kontaktflächen „wegzulassen“ (die zwischen den Härchen).
Das Leibniz-Institut für Neue Materialien ist auf dieses spannende Gebiet über den Umweg der Forschung an Materialien für Computerchips gekommen. Da wir dort sehr kleine Kräfte messen konnten, wollten wir das Messprinzip aus reiner Neugier auf biologische Systeme übertragen. (Etwas ausprobieren, nur weil man es glaubt zu können, auch das ist Forschung, oft sogar im Rückblick eine sehr erfolgreiche.) Eine Gruppe von Biologinnen und Biologen, die daraufhin unser Team verstärkte, brachte Fliegen, Spinnen und Geckos in unsere Labors, um deren Haftkräfte zu messen. Wir steuerten einen Herstellprozess bei, mit dem man künstliche Gecko-Oberflächen aus Kunststoffmaterialien mikrostrukturieren kann – und schon waren wir bioinspirierte Materialforscher!
© MPI Stuttgart, Metallforschung, C. Greiner
Bald war uns klar, dass das direkte Kopieren der Natur nicht kreativ genug ist: Wer will schon wie ein Gecko selbst an der Decke kleben oder gar die Glasfläche von Wolkenkratzern entlanglaufen? Für wenige Abenteurlustige mag das verlockend sein, aber daraus wird kein Markt für ein Produkt. Dafür sahen wir in der Automatisierungstechnik vielversprechende Anwendungsmöglichkeiten: Millionen von robotischen Greifsystemen werden weltweit in Fabrikationsstraßen eingesetzt, um einen Gegenstand von hier nach da zu transportieren. Die meisten Greifer arbeiten nach dem Saugsystem – ein teurer, energieaufwendiger Prozess mit enormem CO2-Fußabdruck, der zudem im Vakuum nicht funktioniert, was Franz Weitlaner schon wusste (und die Herstellung empfindlicher Mikroelektronikteile läuft zum Teil im Vakuum ab). Unsere Idee: Mit künstlichen Geckosystemen könnte man eine „Grüne Greiftechnologie“ auf den Markt bringen!
© INM
Doch zunächst mussten unsere Prototypen noch zuverlässiger gestaltet werden. Dazu waren die Grundlagen noch besser zu verstehen: KAPIEREN, nicht KOPIEREN lautet ein Motto der Bionik-Gemeinde. Wir haben den Klebeprozess mit systematischen Messreihen detailliert studiert, dann haben wir die Haftung mit mathematischen Berechnungen und Computersimulationen optimiert und daraus entwickelten wir neue Generationen von Gecko-Oberflächen. Auch ein weiteres Problem musste gelöst werden: Wie kriegt man den Gegenstand auf Befehl wieder ab? Nach mehr als 100 wissenschaftlichen Publikationen und einem Dutzend Patentfamilien war es so weit: Die ersten Roboter bekamen unsere Systeme als „Fingerkuppen“ verpasst. Die Gecomer®-Technologie war geboren!
Inzwischen wird unser Gecko-System weltweit vermarktet: Die Handhabung von empfindlichen Displaygläsern oder von Mikrochips, Papier oder Kunststoff ist inzwischen Routine; besonders interessant sind mit Saugern schwer zu greifende Folien für die Brennstoffzellen, Membranen für die Batteriezellfertigung oder Mikro-LEDs, die so mikroskopisch klein sind, dass sie mit freiem Auge gar nicht zu erkennen sind. Für solche zukunftsträchtigen Anwendungen werden eigens Spezialkameras entwickelt, die jedes Hafthärchen überwachen und dem Roboter den Haftzustand mitteilen; mittels künstlicher Intelligenz entscheidet er dann, ob der Greifprozess fortgeführt oder abgebrochen wird – aktuelle Neuentwicklungen im Dienst der Zuverlässigkeit künstlicher Gecko-Strukturen!
Von der Robotik zu Medizin und Weltall
Haftung einschalten und ausschalten – dieses Prinzip hat uns viele Kooperationspartner beschert. Trommelfellverletzungen sind gar nicht so selten und erfordern oft eine komplizierte und teure Operation. Unsere HNO-Kolleg_innen kamen auf die Idee, unsere Gecko-Strukturen für den Verschluss des Trommelfells einzusetzen. Dazu musste das Design der Systeme für die Haut modifiziert und auf medizinisch zugelassene Materialien umgestellt werden. Nach ausführlichen Experimenten stand fest, dass das neue „Pflaster“ ohne Kleber nicht nur vorzüglich haftet, sondern auch den Heilungsprozess beschleunigt und von den Chirurg_innen wegen seiner guten Handhabbarkeit gelobt wird; ebenso war die Hörfähigkeit des Ohres augenblicklich wieder hergestellt, nicht wie neu, aber deutlich besser als im unversorgten Zustand. Derzeit laufen erste klinische Studien am Menschen. Wenn alles klappt, dann brauchen sich künftige Patienten keiner aufwendigen Operation mehr unterziehen, sondern können ambulant und ohne Narkose behandelt werden.
© INM und Universitätsklinik Homburg
Das neueste Anwendungsbeispiel stammt aus dem Weltall: Zigtausende unkontrolliert torkelnder Satellitenbruchstücke und Schrottteile gefährden heute bereits die Umlaufbahnen um unseren Planeten. Die Weltraumorganisationen suchen daher dringend nach Technologien, um den Weltraumschrott zu entfernen oder zumindest in niedrigere Höhen zu schubsen, wo sie dann verglühen. Kürzlich hat die NASA unsere Haft-Oberflächen auf der Internationalen Raumstation (ISS) an zwei Astrobees (selbstständige Roboter) getestet: Die Docking-Fähigkeit übertraf die Erwartungen, sodass mit weiteren Einsatztests zu rechnen ist.
Auch dies ist eine ideale Anwendung für unsere Gecko-Systeme, denn in Frage kommende Greifsysteme müssen im endgültigen Einsatz zuverlässig und vakuumtauglich sein – das wusste bereits Franz Weitlaner, dessen Neugier wir den entscheidenden Erkenntnisgewinn verdanken.
© NASA, ESA, TU Braunschweig
Literaturtipps:
- E. Arzt u. a.: Functional surface microstructures inspired by nature, Progress in Materials Science 120, 100823 (2021) – allgemeiner wissenschaftlicher Überblicksartikel
- M.K. Ben-Larbi u. a.: Orbital debris removal using micropatterned dry adhesives, Progress in Aerospace Sciences 134, 100850 (2022) – Überblicksartikel zur Rückholung von Weltraumschrott
- F. Weitlaner: Eine Untersuchung über den Haftfuß des Gecko, Verhandlungen der Zoologischen und Botanischen Gesellschaft Wien 52, 328 (1902) – der Originalartikel, der sich wie ein Abenteuerbericht liest
Eduard Arzt forscht an bioinspirierten Materialien an der University of California, San Diego. Er war bis zuletzt Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Leibniz-Instituts für Neue Materialien in Saarbrücken und Professor für Neue Materialien an der Universität des Saarlandes. Seine Spezialthemen sind Hochleistungslegierungen und Materialien der Robotik und Biomedizin.