In den letzten Jahren wurden in Museen immer mehr Angebote für Menschen mit Demenz realisiert. Digitale demenzsensible Vermittlung hingegen ist noch relatives Neuland. Einzelne Pilotprojekte zeigen die Möglichkeiten dieser Art der Vermittlung auf und erschließen damit neue Möglichkeiten kultureller Teilhabe.
Text: Manuela Gallistl
Demenzsensible Kulturvermittlung im digitalen Raum
Mi 25. Oktober 2023
Demenz ist eine Erkrankung, die häufig mit sozialer Isolation einhergeht. Die Corona-Pandemie stellte eine zusätzliche Herausforderung für Betroffene, pflegende Angehörige und Heime dar. Einerseits zählen Menschen mit Demenz zu den besonders zu schützenden Risikogruppen, gleichzeitig kann soziale Isolation ein rascheres Fortschreiten der Symptome zur Folge haben – ein schwieriger Balanceakt!
Das Technische Museum Wien realisierte zwei demenzsensible digitale Projekte: „Erinnerung bewegt“ und „Ausflug Erinnerung“
© Nick Mangafas
Um in dieser Situation ein Angebot für Menschen mit Demenz zu schaffen, setzte das Technische Museum Wien im Rahmen von Kultur-Transfair, einer Initiative von „Hunger auf Kunst und Kultur“ zwei demenzsensible digitale Projekte um: „Erinnerung bewegt“ mit den „Freizeitbuddys bei Demenz“ und „Ausflug Erinnerung“ in Kooperation mit einem Caritas-Pflegewohnheim. Ein Wagnis, das sich gelohnt hat!
Den Kern der Projekte bildeten jeweils drei Online-Termine in der Gruppe. Zum Projektabschluss trafen sich alle Teilnehmer_innen live im Museum zu einem Rundgang und einem gemütlichen Ausklang bei Kaffee und Kuchen. „Der Kuchen ist das Wichtigste“, merkte ein Teilnehmer mit verschmitztem Gesichtsausdruck an.
Rundgang durch das Museum zum Projektabschluss und Ausklang bei Kaffee und Kuchen
© Nick Mangafas
Die Roboterrobbe „Paro“ wird in der Altenpflege eingesetzt: Sie reagiert auf Berührungen und Geräusche
© Nick Mangafas
Vor den digitalen Gruppenterminen fand für jedes Tandem (ein Mensch mit Demenz und eine Begleitperson) ein individueller Termin mit der Kulturvermittlerin statt, bei dem das gegenseitige Kennenlernen und der Erfahrungsaustausch zum Thema „Mobilität und Reisen“ im Zentrum standen. Diese individuellen Treffen fanden sowohl „real“ als auch „digital“ statt. Erfahrungen und Interessen der Teilnehmer_innen wurden in die darauffolgenden Gruppentermine eingebunden und gaben die Inhalte der gemeinsamen Treffen vor.
Digitale demenzsensible Vermittlung – (wie) geht das?
Ein Schlüssel für das Gelingen der digitalen Termine ist das gewählte Setting:
- Die Gruppengröße von jeweils vier Menschen mit Demenz und deren Begleitung (Freizeitbuddy oder Pfleger_in/Sozialbetreuer_in) wurde bewusst klein gehalten, um höchst individuell auf die Teilnehmer_innen eingehen zu können. Diese konnten so die Gesamtgruppe auf dem Bildschirm gut überblicken, untereinander auf Wortmeldungen reagieren und Bezug nehmen.
- Die Teilnahme an den Online-Terminen erfolgte in Zweierteams: Jeweils ein Mensch mit Demenz und eine Begleitperson nahmen nebeneinander vor einem Computerbildschirm sitzend an den Workshops teil.
- Den Begleitpersonen kam bei den Online-Terminen große Bedeutung zu: Sie bauten Brücken zwischen der Kulturvermittlerin und den Teilnehmer_innen mit Demenz, zwischen digitaler und realer Welt.
- Eine Kulturvermittlerin aus dem Technischen Museum Wien führte alle Vermittlungen live durch, während eine weitere Kollegin als technischer Support unterstützte, beobachtete und Feedback gab. Beziehungsaufbau und Beständigkeit der Vermittlerin sind für diese Zielgruppe besonders wesentlich, (Wissens-)Inhalte dienen eher als Gesprächsimpulse.
- Den inhaltlichen Rahmen lieferte das Thema „Mobilität und Reisen“. Dies bot allen Teilnehmer_innen vielfältige Anknüpfungspunkte zum Erinnern und Erzählen.
- Die Kommunikation erfolgte über den Bildschirm mit der Vermittlerin bzw. mit der Gesamtgruppe, aber immer wieder auch zu zweit mit der Begleitperson im analogen Setting. Impulsfragen oder Materialien, wie zum Beispiel Bildkarten, gaben Gesprächsanregungen.
- Vor jedem Online-Termin wurden Materialien per Post verschickt, die in die Vermittlung eingebunden wurden und durch ihre Gegenständlichkeit Halt gaben. Aktivitäten wie das gemeinsame Basteln und Experimentieren mit diesen Materialien waren ein wesentlicher Teil der Vermittlung.
- Mithilfe von Bild- und Videomaterial, aber auch von Musik und Geräuschen wurden unterschiedliche Sinne angesprochen und angeregt.
- Durch diesen Methodenmix und die abwechslungsreiche Gestaltung konnte die Aufmerksamkeit und Konzentration je eine Stunde lang gut gehalten werden. Die Zeit verging wie im Flug und ein erstauntes „Was, schon vorbei?!“, war nicht selten beim Abschied zu vernehmen.
Realer versus digitaler Museumsraum – eine Gegenüberstellung
Die Erfahrung mit demenzsensibler Vermittlung im Technischen Museum Wien zeigt, dass jeder Museumsraum – der analoge wie der digitale – spezifische Vorteile hat. Für manche Personen erscheint der eine oder andere Raum geeigneter, für andere ist eine Kombination beider Angebote ideal.
Vorteile im realen Museumsraum
Eine Lokomotive in voller Größe und Dreidimensionalität zu betrachten ist ein spezielles Erlebnis! Man kann sich körperlich zum Objekt in Beziehung setzen, näher herantreten, um Details zu betrachten oder sich aus der Ferne einen Überblick verschaffen. Jedes Objekt hat seine individuelle Geschichte, die ihm eine gewisse „Aura“ und Wirkung verleiht. Auch das Gebäude selbst spricht zur Besucherin bzw. zum Besucher und das Museum als sozialer Ort wird zum Ausflugsziel.
Die Sichtbarkeit von Menschen mit Demenz an öffentlichen Orten ist ein wichtiges Signal für Betroffene, Angehörige und die Gesellschaft, denn jeder Mensch ist angewiesen auf ein Gefühl des „Dazugehörens“.
Bei einer geführten Tour durch das Haus kann sehr spontan auf Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmer_innen reagiert werden. Beziehungsaufbau und Kommunikation erfolgen sehr direkt durch räumliche Nähe, Körperlichkeit und den direkten Blickkontakt.
Vermittlungen vor Ort zum Thema „Mobilität und Reisen“
© Nick Mangafas
Die Teilnehmer_innen des demenzsensiblen Vermittlungprojekts vor der Dampflok 12.10
© Nick Mangafas
Vorteile im digitalen Raum
Das digitale Museumsangebot findet zu Hause oder im Senioren-/Pflegeheim statt. Die vertraute Umgebung kann ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Betroffene können auch von weiter entfernten Orten aus an den digitalen Vermittlungsangeboten teilnehmen, was vor allem für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen von Vorteil ist. Falls pflegerische Unterstützung notwendig ist, kann die Teilnahme von zuhause aus entlasten: Hygieneartikel etc. sind griffbereit.
In Online-Settings gibt es meist weniger visuelle und akustische Ablenkungen. Die Teilnehmer_innen können sich leichter auf das Geschehen am Bildschirm fokussieren. Trotz der physischen Distanz entsteht eine intensive Nähe zwischen den agierenden Personen.
Im digitalen Setting sind alle ungefähr im selben Tempo unterwegs, es entstehen seltener Wartesituationen, niemand biegt in eine andere Richtung ab, alle sind am gleichen Stand.
Inhalte können leichter multimedial gestaltet oder Details vergrößert dargestellt werden. Im Ausstellungsraum weit voneinander entfernte Objekte rücken digital näher aneinander, werden neu geordnet und in Zusammenhang gebracht. Foto- und Videoaufnahmen können gezeigt, Soundbeispiele vorgespielt und somit mehrere Sinne angesprochen werden.
Resümee: Entweder – oder?
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass digitale demenzsensible Vermittlung einen wesentlichen Beitrag zu kultureller Teilhabe leisten kann und eine sinnvolle Ergänzung zu analogen Angeboten im Museum darstellt. Die Vielfalt der Angebote erhöht die Chancen, dass möglichst alle Menschen Zugang zu attraktiven kulturellen Aktivitäten haben. In diesem Sinne mögen die Projekte aus dem Technischen Museum Wien Inspirationsquelle und Mutmacher für demenzsensible Vermittlung sein – sowohl analog als auch digital.