Nach dem Vorbild der Natur: Wie können wir die Prinzipien der Bionik auf unsere Technik anwenden? Sind bionische Materialien, Strukturen und Prozesse per se nachhaltiger? Eine Einführung mit konkreten Lehrbeispielen aus der Natur.
Text: Ille C. Gebeshuber
Bionik und Nachhaltigkeit
Mo 24. Oktober 2022
Was ist Bionik?
In der Bionik geht es um die Frage: Was können wir von der belebten Natur lernen, um Probleme zu lösen, die sich uns als Menschen stellen? Da Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen in derselben physikalischen Welt leben wie wir Menschen, findet man bei ihnen interessante, oft auch unkonventionelle Lösungen, über Milliarden von Jahren entwickelt. So zum Beispiel die besondere Form von Pinguinen, die es ihnen erlaubt, sich schnell im Wasser zu bewegen – und das auch noch mit sehr wenig Energieaufwand. Dasselbe gilt für Vögel – ihre Stromlinienform hat sich im Laufe der Evolution aus plumpen, noch sehr dinosaurierartigen Urtieren entwickelt. Auch Flugzeuge, Schiffe und U-Boote werden möglichst stromlinienförmig konstruiert.
Neben der Form haben Lebewesen Materialien und Strukturen in Verwendung, die durch höchst interessante Prozesse hergestellt werden, ganz anders als derzeit in der Technik. Wir Menschen bringen viele verschiedene Grundstoffe über Tausende von Kilometern hinweg aus allen Teilen der Welt zusammen und verarbeiten diese bei hohen Temperaturen und Drücken. Am Ende ihrer Verwendung sind die Produkte oft auch noch schwierig zu rezyklieren. Ganz anders ist es bei Lebewesen: Egal ob die harte Schale einer Muschel, die wunderschön schillernde Feder eines Pfaus oder die Zähne eines Babys – sie alle werden von den Lebewesen selbst aus lokal verfügbaren Materialien aufgebaut, mit wasserbasierter Chemie ohne potenziell giftige Lösungsmittel, und schon in genau der Struktur, in der die Organismen sie brauchen. Und am Lebensende können in den meisten Fällen die Grundstoffe der Lebewesen wiederverwendet werden – als Dünger oder als Futter für weitere Lebewesen – auch das unterscheidet sie von den meisten derzeit verfügbaren Technologien. Verrottende Pflanzen bilden Humus, Käfer werden von Igeln gefressen und Gelsen von Mauerseglern. Wie wäre es, wenn auch unsere technischen Geräte so umweltverträglich wären? Genau hier können wir von der Bionik lernen. Aber Achtung:
Ist Bionik nachhaltig?
Die Frage, ob Bionik nachhaltig ist, ist schwer zu beantworten. An sich können aus der Natur abstrahierte Prinzipien, die in die Technik transferiert werden, nachhaltig, neutral oder nicht nachhaltig sein. Selbst die belebte Natur an sich ist nicht nachhaltig. Man denke nur an die Klippen von Dover, die aus fossilen Überresten von Mikroorganismen bestehen oder an biogene Lagerstätten von Kohlenwasserstoffen. Was die belebte Natur auszeichnet, ist, dass das Leben trotz widrigster Umstände seit Milliarden von Jahren besteht. Und das ist schon eine Leistung. Abgesehen von der Bionik als methodische Wissenschaft, in der das Prinzip Nachhaltigkeit der bionischen Materialien, Strukturen und Prozesse nicht vorkommt, sollten wir jedoch – gerade angesichts der vielfältigen Probleme, mit denen wir derzeit als Menschheit konfrontiert sind – in unseren bionischen Gehversuchen auf Nachhaltigkeit setzen. Bionische Herangehensweisen generell als grundlegend nachhaltig zu verkaufen, ist jedoch Greenwashing und sollte vermieden werden. Um bionische Materialien, Strukturen und Prozesse zu entwickeln, die dann auch in nachhaltige Produkte münden, braucht es schon größere Anstrengungen und mehr technische Kreativität. Und genau diese technische Kreativität ist heute gefragt. Umdenken ist angesagt. Lernen von der Natur. Für eine gute Gegenwart und eine lebenswertere Zukunft.
Wichtig sollte uns bei der Entwicklung nachhaltiger bionischer Lösungen aber nicht nur die Menschheit sein, sondern auch unsere Um- und Mitwelt, jene Organismen, mit denen wir uns die Erde teilen und die Ehrfurcht und Respekt verdienen. In diesem Sinne sollten wir gewisse Ansätze und Methoden sowohl in der Bionik und auch in der Biotechnologie nicht übertreiben. Ein Beispiel übertriebener pflanzenschädlicher Zugangsweisen ist das technisch optimierte Phytomining, also der Bergbau mit Pflanzen. Einige Pflanzen akkumulieren Schwermetalle aus der Umgebung, und zwar auf eine Art und Weise, die den jeweiligen Pflanzen nicht schadet. Dadurch kann der Boden aufgereinigt werden und Metalle angesammelt (z. B. Cadmium in Sonnenblumenblütenblättern), die nach dem Tod der Pflanzen und nachfolgendem Verbrennen aus ihrer Asche gewonnen werden können. Biotechnologische Optimierungen haben nun dazu geführt, dass die Pflanzen so viele Metalle aufnehmen, dass es ihrem geordneten Wachstum entgegensteht. Dies ist meiner Meinung nach nicht notwendig. Sanft und langsam, gut und schön funktionieren viele der Lösungen der Natur. Und dadurch, mit Zeit und Muße, entwickelten sich über die Jahrmillionen spannende Kollaborationen, oft über Artengrenzen hinweg, und wir Menschen beginnen gerade erst, sie kennenzulernen und zu verstehen. Die Natur ist die größte Lehrerin!
Einige Beispiele
Einige Beispiele für schöne und funktionelle Inspirationen aus der belebten Natur für die Technik sind Pflanzengallen, blau leuchtende Farne im tropischen Regenwald, schillernde Schmetterlinge mit farblosen Farben und – ja, Sie lesen richtig – Bockkäfer.
Pflanzengallen auf dem Blatt einer jungen Buche, Nationalpark Kalkalpen, 2022
© Bianca Sandra Ranovsky
Viele Gallen sind Kinderstuben für Insekten. Gallwespen beispielsweise stechen Blätter an, legen dort ihre Eier ab. Das sich entwickelnde Jungtier programmiert durch abgegebene chemische Signale die Pflanze und bringt sie dazu, dem ungebetenen Gast ein „Haus“ zu bauen und Nahrung zur Verfügung zu stellen. Die Bionik schaut sich von Pflanzengallen ab, wie wir Dinge, die wir brauchen, in funktionale Struktur wachsen lassen können – genau dort, wo wir sie brauchen!
Nachhaltigkeitsaspekt: Pflanzengallen dienen als Inspiration für selbstwachsende technische Geräte, die nach ihrer Verwendung vollständig wiederverwendet oder wiederverwertet werden können. Ein derartiger disruptiver Zugang zu Produktion, Verwendung und Entsorgung von technischen Geräten ist ein möglicher Weg in Richtung Nachhaltigkeit.
Pfauenmoosfarn (Selaginella willdenowii)
© Foozi Saad, IPGM Malaysia
Der Pfauenmoosfarn ist eine tropische Regenwaldpflanze, deren Blätter abhängig vom Betrachtungswinkel grün oder blau erscheinen. Reißt man ein Stück der Pflanze ab und es beginnt auszutrocknen, verschwindet die blaue Farbe. Legt man das Blattstück nach nicht zu langer Zeit wieder ins Wasser, kommt die blaue Farbe zurück. Die blaue Farbe entsteht nicht durch Pigmente, sondern durch sehr dünne Schichten, in ihrer Dicke vergleichbar mit der Hülle einer Seifenblase.
Nachhaltigkeitsaspekt: Die Pfauenmoosfarn dient als Inspiration für Farben, Sensoren, funktionale Oberflächen und responsive Materialien, die aus umweltfreundlichen, leicht zu produzierenden und entsorgenden Materialien hergestellt werden.
Der nationale Schmetterling von Malaysia Rajah Brooke’s Birdwing (Trogonoptera brookiana)
© Ille Gebeshuber
Rajah Brooke’s Birdwing erscheint auf seinen Flügeln schwarz und grün. Die Farben werden allerdings durch optische Phänomene an kleinsten Strukturen in der Größenordnung der Lichtwellenlänge erzeugt und nicht durch Farbpigmente.
Beispiele von Schmetterlingen (links), in denen die Farbeffekte ganz oder teilweise durch kleinste Strukturen (rechts) hervorgerufen werden
© Rick Prum
Im Laufe der Evolution entstanden verschiedenste Möglichkeiten für strukturbasierte Farben. Abhängig von der jeweiligen technischen Anwendung kann man aus einer wahren Schatzkiste von Möglichkeiten wählen.
Nachhaltigkeitsaspekt: Schmetterlingsflügel inspirieren umweltverträgliche Mikro- und nanostrukturierte Oberflächen, in denen die Funktionalitäten wie gerichtetes Wasser-Abrinn-Verhalten, Selbstreinigung und Temperaturregelung in der Struktur und nicht im Material bedingt sind.
Bockkäfer (Batocera hercules) aus dem indonesischen Borneo
© Iwan Ramawan
Ein kleiner Käfer, aus einer ungewöhnlichen Perspektive fotografiert, kann eine wunderbare Inspiration für die Technik sein: die Kugelgelenke der Antennen für Verbindungsstrukturen, die kleinen nach oben schauenden Ocelli (Äugleins) für neuartige GPS-Systeme, die ohne Satelliten auskommen, die harten Mandibeln für neuartige Schneidewerkzeuge.
Nachhaltigkeitsaspekt: Selbst harte Materialien und empfindliche Sensoren können umweltfreundlich aufgebaut sein und dementsprechende bionische Entwicklungen inspirieren.
Fazit
Im Laufe der Evolution haben sich Lebewesen entwickelt, die in vielfacher Hinsicht mit ihren Funktionalitäten unsere derzeitigen technischen Lösungen übertreffen und deswegen als Beispiel dienen können für neue, bessere Technologien, die mit dem Menschen und der Umwelt in Einklang stehen. Das Leben erhält sich seit Jahrmilliarden am Leben und ist schon deswegen ein guter Lehrer. Da uns Menschen allerdings auch die einzelnen Individuen wichtig sind, können wir das im Prinzip grausame Selektionsprinzip der Natur nicht einfach nur blind kopieren, sondern benötigen ein Amalgam aus Wissen, Weisheit und Güte, das uns den Weg ebnet in eine gute Zukunft. Und dafür ist die Bionik eine wichtige Zutat!
Literaturtipps:
Ille C. Gebeshuber: Wo die Maschinen wachsen. Wie Lösungen aus dem Dschungel unser Leben verändern werden. Wals bei Salzburg 2016.
Werner Nachtigall, Kurt G. Blüchel: Das große Buch der Bionik. Stuttgart 2003.
Sigrid Belzer: Die genialsten Erfindungen der Natur. Bionik für Kinder. Frankfurt/Main 2010.
Ille C. Gebeshuber ist Professorin am Institut für Angewandte Physik der TU Wien.