Mi 25. Mai 2022
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in vielen europäischen Städten Vegetariervereine. In einschlägigen Restaurants konnte man sich zum Essen und zum Austausch treffen. Kochbücher und Ernährungsratgeber begannen die Lehre von der fleischlosen Kost zu verbreiten. Auch in Wien erlebte der zumeist männlich dominierte Vegetarismus eine erste Blütezeit.
Im Jahr 1881 trafen sich rund fünfzig Personen in einem der ersten vegetarischen Restaurants Europas, im „vegetarianischen Speiselocal“ von Karl und Madgalena Ramharter in der Wiener Innenstadt. Sie schlossen sich zum „Verein für naturgemäße Lebensweise“ zusammen, der sich wenige Jahre später in Vegetarierverein umbenannte.
Der Wiener Vegetarierverein stand – ganz dem demokratischen Grundgedanken verpflichtet – allen offen. Betrachtet man die Aktivitäten in den folgenden Jahrzehnten, wird allerdings deutlich: Die (organisierte) vegetarische Bewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war großteils männlich und bürgerlich.
Die Herren „Vegetarianer“ (so die damals übliche Bezeichnung) trafen sich zu Diskussionsrunden, aber auch zu geselligen Zusammenkünften und sportlichen Aktivitäten. Über Leserbriefe, Flugblätter und öffentlich zugängliche Vorträge wollten sie ihre Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zur Abkehr vom Fleischkonsum bewegen.

Wiener Kochbuch, 1914: Wiener Kochbuch, 1914
Wiener Kochbuch, 1914
Kriegskochbuch, 1916: Kriegskochbuch, 1916
Kriegskochbuch, 1916
Gründe für ein vegetarisches Leben

Die Argumente für den Vegetarismus waren facettenreich. Viele Vegetarier der ersten Generation waren über Krankheiten zur fleischlosen Diät gekommen. Sie betonten die gesundheitlichen Vorteile, besonders angesichts des bürgerlichen Lebensstils: Während viele Arbeiter_innen-Familien mit Mangelernährung zu kämpfen hatten, führte im Bürgertum die Kombination von wenig Bewegung und opulenten Fleischmahlzeiten zunehmend zu gesundheitlichen Beschwerden. Mäßigung war das Rezept, das Vegetarier_innen nicht nur für körperliches, sondern auch seelisches bzw. geistiges Wohlbefinden propagierten. Eine „naturgemäße Lebensweise“ setzte allgemein auf die Reduktion von „Reizmitteln“. Alkoholabstinenz, Frischluft, Hygienemaßnahmen, die Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht zum Alltag gehörten wie beispielsweise regelmäßiges Duschen oder Baden und sportliche Betätigung waren neben der Ernährung Prinzipien der Lebensreform – so ein Schlagwort der Epoche um 1900.
Ein weiterer Grund, kein Fleisch zu essen, war Mitleid mit Tieren bzw. die Ablehnung von Gewalt gegen Tiere und erste Bekenntnisse zu Tierrechten. Tierethische Überzeugungen standen dabei im Kontext unterschiedlichster Weltanschauungen, religiöser oder spiritueller Vorstellungen, aber auch dem Zivilisationsanspruch des Bürgertums des 19. Jahrhunderts.
Weitere Argumente waren mit anderen Diskursen der Zeit verknüpft. Zum Beispiel wurde bei der Frage nach der naturgemäßen Kost des Menschen ein Blick auf die Ernährung der Affen geworfen – manchmal unter direkter Bezugnahme auf Darwin.
Ähnlich vielfältig wie die Beweggründe waren auch die vegetarischen Ernährungs- und Lebensstile. In einschlägigen Zeitschriften diskutierten Rohkostanhänger mit jenen, die Vollkornbrot als Basis der Ernährung sahen. Vegetarier_innen, die mit mehrgängigen vegetarischen Festtafeln zeigen wollten, dass auch ohne Fleisch genussreich getafelt werden kann, lieferten sich rhetorische Duelle mit anderen, die gegen jede Art der Völlerei auftraten. Die Frage „Dürfen vegetarisch lebende Menschen fleischlose Schnitzel essen“ ist ebenso keine Erfindung der Gegenwart. Die meisten Vegetarier_innen begrüßten Initiativen wie jene des Wirts der „Thalysia“, einem vegetarischen Restaurant neben dem Wiener Burgtheater. Dieser erlangte um 1900 mit seiner Kreation des eingangs genannten vegetarischen Wiener Schnitzels Berühmtheit.

Karikatur im Satireblatt „Kikeriki“, 1899: Karikatur im Satireblatt „Kikeriki“, 1899
Karikatur im Satireblatt „Kikeriki“, 1899
Pflanzliche Brotaufstriche auf der Basis von Nüssen oder Hülsenfrüchten, lederfreie Schuhe, getrocknete Früchte, vegetarische Kochbücher, rein pflanzliches Fett, Getreidemühlen, um selbst Vollkorn- und Schrotbrot zu backen: Das sind einige der Produkte, die Ende des 19. Jahrhunderts auf den Markt kamen. In den 1880er-Jahren primär über Versandgeschäfte bestellbar, waren die Reformwaren um 1900 in den meisten Städten in Reformhäusern erhältlich. In Wien boten Josef und Marie Schmall ab 1895 in der Lerchenfelder Straße ihren Gesinnungsgenossen alles an, was für ein Leben gemäß den Prinzipien der Lebensreform nötig war.

Werbung für die Ausstattung eines „vegetarischen Haushalts“: Werbung für die Ausstattung eines „vegetarischen Haushalts“
Werbung für die Ausstattung eines „vegetarischen Haushalts“
Österreichische Firmen und ihre vegetarischen Produkte

Neben jenen Produkten, die speziell für Lebensreformer_innen entwickelt worden waren und innerhalb dieser Nische vertrieben wurden, profitierten Vegetarier_innen im späten 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert auch von Innovationen am allgemeinen Lebensmittelsektor. Als Beispiele für Waren, die aus einem Zusammenspiel von chemischen bzw. technischen Neuerungen und der Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion entstanden, sind Kokosfett und Sojamehl zu nennen.
Hier zeigt sich, dass Fleischverzicht nicht automatisch Konsumverweigerung bedeutete. Viele Vegetarier_innen der Zeit um 1900 können – um es mit heutigen Worten zu sagen – als kritische Konsumentinnen und Konsumenten bezeichnet werden, die sich genau über Zusammensetzung und Herstellung ihrer Nahrung informierten. Neben der vegetarischen Rezeptur spielten beispielsweise auch die Hygiene bei der Herstellung sowie – in Zeiten der Lebensmittelverfälschung – die Verlässlichkeit der Zutatenlisten eine Rolle. Entsprachen Produkte ihren Anforderungen, dann waren Vegetarier_innen diesen gegenüber aufgeschlossen.
Marie Schmall schwärmte in ihrem vegetarischen Kochbuch „Die Zukunftsküche“ (Wien, 1900) über das Pflanzenfett Laureol: „Es ist dies nämlich ein so vorzügliches Fett“. Das Kokosfett Laureol wurde (neben der „Wiener Sparbutter Prima“) von der Wiener Firma Julius Moll & Cie ab 1895 bis zumindest 1911 produziert. Für Menschen, die konsequent vegetarisch leben wollten, erleichterten Kokosfett und Margarine (beide seit Ende des 19. Jahrhunderts erhältlich) den Alltag ungemein, da das bis dahin gebräuchlichste Fett Schmalz war, wodurch auch Gemüse- und Mehlspeisen nicht vegetarisch waren. Butter war aufgrund der schlechteren Haltbarkeit weniger verbreitet, Speiseöle kamen erst ab den 1920er-Jahren in breitem Umfang auf den Markt. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich manche Kokosfettmarken bereits etabliert, wie die Empfehlung im vegetarischen „Kleinen Kochbuch für Jedermann“ (Wien, 1925) zeigt: „Wo Pflanzenfett angegeben verwende man die einzigen österreichischen Fabrikate ‚Kunerol‘ und ‚Ceres‘ die 100%iges Kokosfett darstellen, für deren Reinheit die erzeugenden Fabriken die Garantie übernehmen“.

Thea Milch-Margarine, 1920er-Jahre: Thea Milch-Margarine, 1920er-Jahre
Thea Milch-Margarine, 1920er-Jahre
Weniger erfolgreich waren Versuche, Sojaerzeugnisse in den österreichischen Küchen einzuführen: 1873 auf der Wiener Weltausstellung präsentiert, wurden Sojabohnen zwar schon in den darauf folgenden Jahren in der Habsburgermonarchie angebaut, allerdings nur im Rahmen einer vorübergehenden Forschungsreihe. In den 1920er-Jahren erfolgte ein erneuter Anlauf zur Verarbeitung der eiweißreichen Pflanze in Österreich. Ab 1928 stellten die Firma Winkler in Atzgersdorf sowie ein Sojawerk in Schwechat Sojamehl her, das unter dem Markennamen „Edel Soja“ als nährstoffreicher und günstiger Fleisch- und Eierersatz bzw. zur Beimischung für Brot und Backwaren beworben wurde. „Edel Soja gibt Kraft der fleischlosen Kost“ lautete beispielsweise der Slogan eines Inserats in dem Kochbuch „Fleischlose Küche“ (Wien, 1931). Große Verbreitung fanden die Sojaerzeugnisse allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht.

"Edel Soja", Plakat, 1929: "Edel Soja", Plakat, 1929
"Edel Soja", Plakat, 1929
Wachsende Akzeptanz und das vorläufige Ende des ersten „Veggie-Booms“

Insgesamt erfuhr die vegetarische Ernährung in den 1920er-Jahren eine Aufwertung. Die Ernährungswissenschaft benannte und erforschte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe sowie das Säuren-Basen-Gleichgewicht. Als Folge wurde neu definiert, was als gesunde Kost galt: Die Richtwerte für die Aufnahme von tierischem Eiweiß wurden nach unten korrigiert und gleichzeitig wurde Obst, Gemüse und Vollkorngetreide ein zentraler Platz im täglichen Speiseplan zugewiesen. Häufigere fleischlose Mahlzeiten zählten zu den Empfehlungen der „neuzeitlichen Ernährung“.

Karikatur in der „Naturheilzeitung“, 1932: Karikatur in der „Naturheilzeitung“, 1932
Karikatur in der „Naturheilzeitung“, 1932
Auch wenn die meisten Österreicher_innen nicht zu Vegetarier_innen wurden: Vegetarische Rezepte und Produkte waren auch außerhalb der vegetarischen Bewegung präsent. Beispielsweise gab der renommierte Steyrermühlverlag in seiner Tagblatt-Bibliothek ein vegetarisches Kochbuch heraus.
Die NS-Diktatur und der Zweite Weltkrieg bedeuteten das Ende für die vegetarischen Alternativen am kulinarischen Sektor ebenso wie für die Vereinsaktivitäten.
Nach den Hungerjahren in der Kriegs- und Nachkriegszeit sollte es Jahrzehnte dauern, bis wieder eine nennenswerte Zahl an Österreicher_innen freiwillig Fleisch vom Speiseplan strich.

Literaturhinweise
Florentine Fritzen: Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens. Stuttgart 2016.
Manuela Linnemann, Claudia Schorcht (Hg.): Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Erlangen 2001.
Lou Marin (Hg.): Das Schlachten beenden! Zur Kritik der Gewalt an Tieren. Berlin 2010.

Birgit Pack ist Historikerin und Betreiberin des Blogs veggie.hypotheses.org