Mo 15. Februar 2021
Christian greift auf sie zurück. Isabella macht durch sie Fortschritte. Und Lios Herz baut auf sie: Die selbstlernenden Systeme der Künstlichen Intelligenz finden ihren Einsatz nicht nur in Industrie und Technik, sondern auch im Assistenzbereich, in der Pflege und in der Betreuung.
Christian ist 28 Jahre alt und Klient der Lebenshilfe Graz. Er bedient mit feinen Bewegungen die Elektrik seines Rollstuhls, mit dem er durch die engsten Stellen der Büroräume fährt. Christian spricht langsam mit vielen Pausen. Das Sprechen strengt ihn an, aber sein Wortschatz ist groß. Er weiß, was er sagen will und wie er es am besten ausdrückt. Deswegen ist er auch in der Forschungsgruppe der Lebenshilfe. „Wir haben herausgefunden, dass die Digitalisierung für Menschen mit Behinderung Vieles möglich macht. Noch aber haben diese Menschen wenig Erfahrung“, stellt Christian fest. Ob Handy, Tablet und Stand-Computer zum Alltag gehören, war eine der Fragestellungen der Forschungsgruppe. „Wir durften unsere Ergebnisse an der Medizinischen Universität Graz vortragen, das hat uns viel Spaß gemacht“, setzt Christian fort. Mit „uns“ meint er sechs weitere Kollegen, die so wie er Rollstuhlfahrer sind. Mit einem breiten Lächeln erinnert er sich an seine Arbeit und denkt vergnügt an neue Projekte.

Der Sprachstift

Der Sprachstift ist ein zylindrisches Instrument, das man in der Hand hält. Das blaue überdimensionale Gerät kann zwar nicht schreiben, dafür aber Töne aufnehmen und Worte in Bilder und Gesten umwandeln. Und umgekehrt.

Kommunikation mittels Sprachstift: Kommunikation mittels Sprachstift
Kommunikation mittels Sprachstift
Das Prinzip „tippen und lernen“ kennen manche Eltern vielleicht aus der Spielzeugkiste ihrer Kinder. Der Anwendungsbereich dieses Sprachstiftes ist jedoch viel größer, weiß Florian Kohlberger-Hack. Der 39-Jährige setzt sich seit Jahren mit inklusiven Lebensformen auseinander und dazu hat er das Projekt „Sprachlos inklusiv“ initiiert: „Ich habe festgestellt, dass sich Menschen mit einem Tablet schwertun, wenn sie gleichzeitig den Rollstuhl bedienen sollen. Ein Stift hilft da sehr, noch dazu einer, den man sich umhängen kann.“ Das Gerät nimmt Sprache und Töne auf und gibt sie wieder, sobald man auf einen speziellen Code auf einem Blatt tippt. Je nach Themenbereich gibt es dazugehörige Begleithefte. Eines kommt etwa bei der Anamnese, also beim Gespräch über die Krankheitsgeschichte, zum Einsatz. „Ich als pflegende Person kann auf Deutsch oder Englisch nach der Befindlichkeit eines Patienten fragen“, bringt Florian Kohlberger-Hack ein Beispiel aus der Praxis, „und der Betroffene kann als Antwort auf die Symbole zeigen.“
Ob im Spital, in der Pflege oder in der Lebenshilfe-Betreuung, der Sprachstift ist ein einfaches, robustes und effizientes Kommunikationswerkzeug. Wie das genau funktioniert? Stift einschalten, auf „Aufnahmemodus“ gehen, Code wählen, auf die Taste des Mikrofons drücken, Countdown abwarten und besprechen. Auch bei Menschen mit selektivem Mutismus, die in bestimmten Situationen nicht sprechen können, hilft der vorher besprochene Sprachstift. Die eigene Stimme ist dann präsent. Mit 80 Euro ist der Sprachstift direkt über sprachlosinklusiv.at zu erwerben.


Multifunktional und einfach zu bedienen: Multifunktional ...
Multifunktional ...
Multifunktional und einfach zu bedienen: ... und einfach zu bedienen
... und einfach zu bedienen

Gehen dank Exoskelett

Rupert Kluhs-Preißler stellt einen Holzstuhl in die Mitte des Raumes. Darauf positioniert der Physiotherapeut das 27 Kilogramm schwere Exoskelett. Das sind Schienen für Unter- und Oberschenkel, dazwischen ein Gelenk. Über der Hüfte befindet sich eine Art Rucksack mit der gesamten Digitalausstattung: Display, Knöpfe und Kabel. Und Haltegriffe für den Therapeuten.

In wenigen Minuten erwartet Rupert Kluhs-Preißler Isabella. Die junge Frau hat seit vierzehn Jahren Multiple Sklerose, die in den Jahren einmal besser und einmal schlechter wurde. Jetzt fährt sie mit dem Rollstuhl in den Therapieraum des orthopädischen Krankenhauses in Wien-Speising. Über die sozialen Netzwerke ist sie auf das Gangtraining bei der Firma tech2people gestoßen. „Ich glaube, dass ich mit dem Exoskelett, wenn ich das regelmäßig mache, wieder gehen kann“, ist Isabella überzeugt. Sie ist guten Mutes, freut sich auf die Einheit und spricht von der einzigartigen Symbiose zwischen Mensch und Maschine. Denn das amerikanische Modell „Ecso Bionics“ verknüpft Motorik mit Neurologie. „Die Neuroplastizität des Gehirns kann durch digitale Impulse so trainiert werden, dass es wieder lernt“, sagt Isabella. Dazu gehören viele Wiederholungen. Wie eben eigenständig Schritte gehen. Dazu bekommt die junge Frau das Exoskelett angelegt. Mit Bändern, Gurten und Stützen. Rupert Kluhs-Preißler hat ihre Daten mittels ID im Gerät eingegeben, ihren Muskeltonus geprüft und festgestellt: „Man merkt den Winter. Das linke Bein hat einen höheren Tonus als das rechte. Die multipel sklerotisch bedingte Spastizität ist links viel stärker ausgeprägt als rechts.“ Jede Gangtherapie-Einheit ist je nach Tagesverfassung anders, deshalb reguliert der Therapeut fast bei jedem Schritt nach. Er hält Mensch und Maschine in seinen Händen. Denn völlig allein kann Isabella nicht gehen, das Gleichgewicht hält der Therapeut. Ist das Training stressig? Isabella verneint, im Gegenteil: „Es ist jedes Mal ein Glücksgefühl, weil man gehen, stehen und sich ganz normal bewegen kann. Natürlich ist es anstrengend für das Gehirn, weil es kognitive Arbeit leisten muss. Man ist danach erschöpft, aber positiv erschöpft!“

Anlegen eines Exoskeletts: Anlegen eines Exoskeletts
Anlegen eines Exoskeletts
Erste Schritte …: Erste Schritte …
Erste Schritte …

Seit Dezember 2018 ist das „Ecso Bionics“-Gerät bei der Firma tech2people im Einsatz. Michael Seitlinger hat gemeinsam mit Gregor Demblin und mit Dennis Veit diese Firma gegründet: „Wir haben überlegt, wie können wir dieses Angebot, das in Österreich damals nicht verfügbar war, vielen Menschen zugänglich machen. Wir haben mit einem Gerät und einem Therapeuten gestartet.“ Inzwischen gebe es drei Geräte für 150 Patient_innen in Wien und vier Therapeuten. Die Nachfrage sei sehr hoch, ergänzt Michael Seitlinger. Das Exoskelett kostet rund 150.000 Euro, die Krankenkassa hat diese Therapieleistung jedoch noch nicht in ihrem Programm. Isabellas Familie muss die Therapiestunden selbst bezahlen. Momentan sind in ganz Europa rund 50 Stück im Einsatz.

Schon steht der nächste Schritt an: Ausbau eines robotischen Therapiezentrums. Dabei soll das Spielerische nicht zu kurz kommen. Mittels Virtual Reality fallen mitunter mühsame Bewegungen deutlich leichter. Und was sagt der Therapeut zum Exoskelett? Rupert Kluhs-Preißler: „Wir arbeiten in der Neurologie mit der neurosynaptischen Plastizität. Das heißt, die neuromuskuläre Ansteuerung muss möglichst oft erfolgen, damit die Bewegung besser funktioniert. Das Exoskelett erleichtert eine Gangbewegung, die in einer hohen Wiederholung immer wieder ausgeführt wird.“ Analoger Nebeneffekt: Die zwei Hände des Therapeuten bekommen durch das Exoskelett mannigfaltige Unterstützung. Denn überall gleichzeitig pressen, drücken und halten schafft auch der beste menschliche Spezialist nicht ...

Lio muss noch lernen

„Lio ist ein freundlicher, mobiler Roboter mit einem funktionalen Arm, der Menschen aktiv unterstützt“, heißt es auf der Seite des Zürcher Herstellers F&P Robotics. 2017 wurde der weißorange künstliche Geselle aus dem Werk in die Welt entlassen und in zwei Pflegeheimen in der Schweiz und in Deutschland eingesetzt. Bis Ende 2021 evaluiert die Fachhochschule Vorarlberg seinen Einsatz, prüft seine Praxistauglichkeit und seine Weiterentwicklung.  
Lio ist kein humanoider Roboter. Er gibt nicht vor, was er nicht ist: eben kein lebendiger Mensch, sondern ein Assistenzroboter. Er besitzt eine fahrbare Plattform, mehrere Gelenke und eine Greifzange. Das befähigt ihn zum autonomen Fahren, Navigieren und Aufladen. Er kann transportieren, Aufgaben anzeigen und unterhalten. „Lio ist ein soziotechnisches System“, fasst Katrin Paldán, zuständig für die wissenschaftliche Evaluation an der Fachhochschule Vorarlberg in Dornbirn, zusammen. Denn die Technik allein reicht nicht für den Einsatz in einem Pflegeheim: „Das eine ist die Mensch-Roboter-Interaktion und das andere sind die sozial-assistiven Funktionen.“ Soll heißen: Rätselaufgaben zur Unterhaltung, Musikwünsche erfüllen, Bewegungsanimation. Bevor Lio in den beiden Pflegeheimen Einzug hielt, musste er die ISO-Norm für Serviceroboter erfüllen. Alles andere lernt er sich in den jeweiligen Orten neu an, sprich Schwesternruf und – wie in der Coronazeit – Desinfektion der Türklinken.

Pflegeroboter Lio: Pflegeroboter Lio
Pflegeroboter Lio

Derzeit handelt der Roboter reaktiv, zukünftig soll er aber von sich aus Menschen mit dem Namen ansprechen, weil er Gesichter erkennen und sich merken können soll. Gleichzeitig soll seine Navigation besser und zuverlässiger werden, er soll nichts fallen lassen, aber auch nicht zu viel können. Denn seine Bestimmung lautet Assistenz, nicht Übernahme von Lebensfunktionen. Und er ist kein Roboter zum Kuscheln wie andere Pflegeroboter. Jedoch, so Katrin Páldan von der Fachhochschule Vorarlberg: „Als Bewohnerin eines Pflegeheims erlebt man viele einsame Stunden. Und da kann Lio auch einmal Freude schenken, indem er schöne Lieder und Geschichten abspielt und damit gute Erinnerungen wachruft.“ Müdigkeit und Langeweile kennt der Roboterassistent auch keine. Er kann ewig dasselbe wiederholen. Die Ideen für seine Weiterentwicklung sind mannigfaltig. Und wie die Bewohner_innen und ihre Angehörigen sowie das Pflegepersonal die Arbeit mit Lio bewerten, wird Ende 2021 beurteilt. 

Ilse Huber (Ö1) macht die Natur in der Wissenschaft multimedial zum Thema.