Fr 22. April 2022
Lärm stellt weltweit ein immer dringenderes Gesundheitsproblem dar, und dies insbesondere in den Ballungsräumen. Schon früh wurden hier Strategien zu seiner Bekämpfung erdacht. Als eine der wirksamsten erwies sich der individuelle Ohrenschutz in Form von Wachs-Watte-Kügelchen, genannt Ohropax.
„Stelle dich einmal gegen Mittag an eine belebte Straßenkreuzung der Großstadt: da poltert, kollert, knarrt, läutet, pfeift, schreit, tollt es oft durcheinander, daß man den Lärm als körperlichen Schmerz empfindet.“ Die Aufforderung des renommierten Wiener Musikritikers Richard Batka markiert den ersten Höhepunkt der Lärmdiskussion in Europas Metropolen, deren Lautsphäre sich um 1900 grundlegend wandelte. Mit zahlreichen Strategien versuchte man die zunehmende akustische Reizüberflutung in den Griff zu bekommen, auf legistischem Wege genauso wie mit städtebaulichen und planerischen Instrumentarien und neuartigen technischen Erfindungen. Schon bald zeigte sich jedoch, dass man den Lärm, wie Experten eingestanden, bestenfalls verringern, keineswegs aber vollständig beseitigen konnte. Was übrig blieb, waren somit individuelle Schutzvorrichtungen, Ohrstöpsel aller Art, mit denen man sich zu jeder Zeit und an jedem Ort vom Lärm der Außenwelt abschließen konnte.

Der bedrängte Mensch: Illustration, 1891
Der bedrängte Mensch: Illustration, 1891
Seit 1885 gab es das „Antiphon“ auf dem Markt, eine kleine Kugel mit Bügel, die man im Ohr applizierte. Sein Erfinder, der deutsche Hauptmann Maximilian Pleßner, pries es als „Apparat zum Unhörbarmachen von Tönen und Geräuschen“, wie er in einer Werbebroschüre mitteilte. Deutlich hatte Pleßner erkannt, dass vor allem die Bewohner der Städte zunehmend das Bedürfnis verspürten, sich gegen die zahlreichen „akustischen Projektile“ auf den Straßen zu wehren. Die aus Metall oder Hartgummi bestehende Kugel schloss den Gehörgang luftdicht ab und konnte anschließend mit dem Bügel in der Ohrmuschel befestigt werden.
Nervenschonend und zudem relativ kostengünstig, fand der neuartige Schalldämpfer zahlreiche Interessenten. Die konkrete Handhabung erwies sich allerdings als zu umständlich. Das „Antiphon“ erzeugte unangenehme Druckgefühle, und immer wieder fiel es aus dem Ohr heraus.
Eine neue Erfindung versprach Abhilfe: „Ohropax“. Sein Schöpfer Maximilian Negwer (1872–1943) war im Jahr 1900 aus Schlesien nach Berlin gekommen, wo er eine Apotheke eröffnete. Hier bot der Drogist neben dem üblichen Sortiment auch Eigenkreationen an, wie das Fleckenwasser „Helgalin“ oder spezielle Hustenbonbons. Auf der Suche nach neuen Produkten stieß er auf das Thema Lärmschutz – eine Marktlücke, wie er sogleich erkannte. Die zündende Idee dafür entdeckte er, angeblich über Anregung von Freunden, in der griechischen Mythologie: Wie Homer in der Odyssee berichtete, verschloss Held Odysseus die Ohren seiner Gefährten mit Wachs, um so dem Gesang der betörenden Sirenen zu widerstehen. So unternahm Negwer Versuche mit Bienenwachs, musste jedoch bald feststellen, dass das Material schnell ranzig und bröckelig wurde und Hautreizungen hervorrief. Nach jahrelangem Experimentieren fand er schließlich die optimale Zusammensetzung: Baumwollwatte, getränkt in einer Mischung aus Vaseline und Paraffinwachs.
Im Unterschied zu Pleßners Vorrichtung entpuppten sich Negwers geschmeidige Wachs-Watte-Kügelchen als leicht handhabbare und überaus wirksame Produkte. Sie passten sich ideal jedem Gehörgang an, erzeugten kein Druckgefühl, hielten in jeder Lage, waren hautverträglich und ließen sich rückstandsfrei wieder herausnehmen.
Wenngleich in jenen Jahren auch andere mit Wachsbaumwollmischungen experimentierten, sollte sich Negwers Erfindung letztlich durchsetzen. Er schloss seine Apotheke und gründete im Herbst 1907 die „Fabrik pharmazeutischer und kosmetischer Spezialitäten Max Negwer“ in Berlin-Schöneberg. Hier erzeugte er fortan neben diversen Salben, Tinkturen und Riechsäckchen auch die neuartigen „Ohropax Geräuscheschützer“. Im Herbst des Folgejahres erhielten sie ihre berühmt gewordene Verpackung: Kleine Blechdosen, bestückt mit sechs Paar Wachskugeln, käuflich erwerbbar zum Preis von 1 Mark. Die Ohrstöpsel etablierten sich erfolgreich am Markt, und als im Ersten Weltkrieg auch die Soldaten damit ausgestattet wurden, war der Durchbruch endgültig geschafft.

Die erste Ohropax-Blechdose, produziert 1910 bis 1923: Die erste Ohropax-Blechdose, produziert 1910 bis 1923
Die erste Ohropax-Blechdose, produziert 1910 bis 1923
Zu den ersten Anhängern des neuen Produkts gehörte der Wiener Schriftsteller Peter Altenberg. Er notierte 1910 euphorisch: „Vor 3 Jahren brachte der Apotheker Max Negwer in Berlin die absolut idealen Ohr-Verschlüsse, Geräusche-Schutz, Ohropax, Ohr-Friede, in den Handel. Es waren knetbare Wachs-Watte-Kugeln. Man schlief damit sogar fest, wenn vor dem natürlich offenen Fenster ein Kutscher seine Pferde eindringlich und mit belebenden Worten ersuchte, sich in Trab zu setzen, wozu sie momentan freilich nicht ganz in Stimmung waren.“
Auch Franz Kafka gehörte zu den vorbehaltlosen Anhängern des neuen Wundermittels. In seinen Briefen kam er gleich mehrmals darauf zu sprechen. „Für den Tageslärm habe ich mir aus Berlin eine Hilfe kommen lassen, Ohropax, eine Art Wachs von Watte umwickelt“, teilte er seiner Freundin Felice im Juni 1915 mit. Und Jahre später gestand er apodiktisch ein: „Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ginge es gar nicht.“

Ohropax-Werbung, 1920er-Jahre: Ohropax-Werbung, 1920er-Jahre
Ohropax-Werbung, 1920er-Jahre
Genaue Absatzzahlen für die erste Phase der Produkteinführung sind zwar nicht überliefert, die Firma „Ohropax“ expandierte jedenfalls und verlegte 1924 ihren Standort nach Potsdam. Firmeninterne Schätzungen für die 1930er-Jahre gehen von einer jährlichen Produktionsmenge von 200.000 bis 300.000 Zwölferdosen aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg übersiedelte das Unternehmen nach Frankfurt am Main und schließlich nach Bad Homburg, wo der Familienbetrieb mit knapp dreißig Beschäftigten bis heute ansäßig ist. Bis zum Jahr 1990 wurden die Wachskugeln noch mit der Hand gerollt, seither werden sie vollautomatisch auf zwei computergestützten High-Tech-Fertigungsstraßen erzeugt. Die jährliche Produktionsmenge beträgt rund 30 Millionen Stück.
Die Produktpalette der Firma Ohropax, die sich selbst als „Erfinder der Ruhe“ bezeichnet, ist längst diversifiziert und erweitert um Schaumstoff- und Silikon-Varianten, von „soft“ bis „mini“ und für spezielle Anwendunggebiete von „flight“ bis „music“. Allen Produkten gemeinsam ist die Entwicklung der Nachfrage: Tendenz steigend.

Ohropax, 2005 (Inv.Nr. 68872): Ohropax, 2005 (Inv.Nr. 68872)
Ohropax, 2005 (Inv.Nr. 68872)
Objekte zum Thema Ohropax: Objektdatenbank

Literaturhinweis:
Peter Payer: Antiphon und Ohropax. In: Ders.: Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens, Wien 1850–1914. Wien-Köln-Weimar 2018, S. 193–200.

Peter Payer (Technisches Museum Wien) ist Stadthistoriker und Kurator für „Kommunale Infrastruktur“.

EMPFEHLUNGEN AUS UNSEREN ONLINE-MAGAZINEN
:

Schreiben wie von selbst

Selbsttätige, scheinbar intelligente Maschinen gab es bereits im fortschrittsbegeisterten 18. Jahrhundert. Jacques de Vaucanson baute eine mechanische Ente, die schnattern, Körner picken und verdauen konnte. Sein Zeitgenosse Pierre Jacquet-Droz konstruierte schreibende und zeichnende Puppen. Aber kaum ein anderer Automat erregte so viel Aufsehen wie die „Allesschreibende Wundermaschine“ von Friedrich Knaus.
:

Wie man einer Maschine das Riechen beibringt

Forscher am MIT entwickeln eine künstliche Nase. Ihr Vorbild: der beste Freund des Menschen. Ihr Mittel: Künstliche Intelligenz. Ihr Ziel: ein Handy, das Krankheiten riechen kann.
:

Helfen und lernen

Die selbstlernenden Systeme der Künstlichen Intelligenz finden ihren Einsatz nicht nur in Industrie und Technik, sondern auch im Assistenzbereich, in der Pflege und in der Betreuung.

DAS KÖNNTE SIE AUCH NOCH INTERESSIEREN
Figur in Vitrine der Ausstellung "Alltag":

Alltag. Eine Gebrauchsanweisung

Die abwechslungsreiche Dauerausstellung geht auf rund 2.300 m2 den „Selbstverständlichkeiten“ des Alltags nach und stellt dabei den Menschen im Umgang mit Technik in den Mittelpunkt.
Innovation Corner - Ausstellungsmotiv:

Innovation Corner: Medizintechnik und assistive Technik

Die Ausstellungsserie "Innovation Corner" widmet sich in ihrer ersten Bespielung Innovationen aus dem Bereich Medizintechnik und assistive Technik. Sie findet in Kooperation mit der oberösterreichischen Standortagentur Business Upper Austria und UAR Innovation Network statt.
:

Medizinischer Becher Kaffee

Pillendosenbecher bringt Ihnen die medizinische Hilfe Ihres Lieblingsgetränks, aber keine Sorge, Sie brauchen kein Rezept für diesen Koffein-Kick.